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Pädagogischer Kita-Tag mit Malte Mienert sorgt für Diskussionen

11. November 2019

?Eine Draußen-Erzieherin und Wind-und-Wetter-Frau, eine Mittagsschlaferzieherin, kein Fasching für Null- bis Dreijährige und drei Wochen Eingewöhnung mit Eltern ?? Das waren einige der Vorschläge, die Prof. Malte Mienert zum nunmehr 13. Pädagogischen Tag am 1. November den knapp 150 anwesenden Pädagoginnen und Pädagogen machte. Zündstoff für intensive Diskussionen, die am Tag selber in verschiedenen Gesprächsrunden, aber danach auch in den Teams sowie zur Klausur der Einrichtungsleitungen geführt wurden.

Kontroverse Diskussionen sind nötig, wenn die eigenen Traditionen und Strukturen in den Einrichtungen nochmal auf den Prüfstand gestellt werden. Solche Diskussionen müssen aber nicht dazu führen, alles über Bord zu werfen. Prof. Mienert hat in seinem Vortrag an vielen Stellen provoziert, manche Argumente selber nicht wissenschaftlich hergeleitet, andere aber recht anschaulich verdeutlicht. Insofern ist seine ?Weisheit? nicht der letzte Schluss, sondern vielmehr eine Anregung zum Nachdenken.

In seinem Plädoyer für eine kindzentrierte Pädagogik veranschaulichte Prof. Mienert, warum Kinder mehrere Bezugspersonen in der Kita finden sollten. Als er etwa eine Kollegin fragte, ob sie ihm als gedachtem Bezugserzieher alles erzählen würde und sie verneinte, aber doch eine in der großen Runde der versammelten Beziehungsexpertinnen finden würde, der sie sich anvertrauen könnte.

Kinder entscheiden sich nicht freiwillig für die Kita, wenn sie mit 1, 2 oder 3 Jahren in unsere Einrichtungen kommen, das betonte Prof. Mienert mehrmals. Sie haben auch ? anders als Erwachsenen ? keine Chance, diese Situation zu ändern. Aber sie gewinnen Freude daran, mit anderen Kindern den Tag zu verbringen, wenn sie von ihren Eltern und einfühlsamen Pädagoginnen und Pädagogen begleitet werden und die Chance haben, für sich zu prüfen, mit welchen der neuen Erwachsenen die Chemie wohl am ehesten stimmt. Gut gelaunte Fachkräfte sind dafür unbedingt nötig, was alle gleichermaßen vor die Herausforderung stellt, authentisch in einer professionellen Rolle und nicht als Privatperson ? vielleicht mit Sorgen und Problemen aus der Familie ? zu agieren.

Prof. Mienert unterlegte seine Argumente teilweise mit Zitaten aus dem Bildungsplan und machte den Unterschied der im Bildungsplan betonten Selbstbildung im Vergleich zur Fremdbildung durch Vermittlung von Wissen deutlich. Leider ging er dabei nicht auf die Ko-Konstruktionsprozesse ein, die einerseits durch Impulse der Erzieherin ? ?ich zeig? dir mal dieses Material ?? und ?probier?, wenn du magst, doch mal diese Technik ?? ? andererseits durch das Zusammenspiel der Kinder ausgelöst werden. Die Freiwilligkeit aller ?Angebote? sowie die Betonung der Projektarbeit als didaktischer Methode haben wir jedoch auch in unseren Fachstandards sehr deutlich gemacht.

An den Themen der Kinder dran zu sein, fordert uns der Bildungsplan auf. Prof. Mienert schlug vor, in 5-Minuten-Gesprächen sich jedem Kind und seinen Interessen intensiv zu widmen und mit ihm herauszufinden, womit es sich gerade am engagiertesten beschäftigt. 5-Minuten-Gespräche? Mit jedem Kind? Auch das könnten doch mal ?Angebote? von uns Erwachsenen sein statt Basteln, Morgenkreis oder Ausflug, oder?

Seine Schlussfolgerung aus dem Satz ?Jedes Kind darf selbst entscheiden, was, wie viel und wie lange es essen möchte? (SBP, S.56) war ?jedes Kind muss aufstehen dürfen, wenn es fertig ist?. Das widerspricht jedoch durchaus der im Bildungsplan an gleicher Stelle beschriebenen ästhetischen Esskultur. Hinterfragen sollte sich allerdings jedes Team, an wie vielen der Mahlzeiten im Tagesablauf ? Frühstück, Obstpause, Mittag, Vesper ? das so gelten muss, oder ob nicht hier oder da eine offenere Buffetform ausreichend ist. Damit könnte man zum einen dem Bedürfnis nach Essen und Trinken gerecht werden, zum anderen jedoch dem klassischen Sitzkindergarten (vgl. SBP, S.49) entgegenwirken.

Prof. Mienert brachte den Wandel der Pädagogik vom Kollektivismus der DDR-Erziehung zum Individualismus unserer heutigen Wissensgesellschaft gut zum Ausdruck. Jede Zeit und gesellschaftlichen Bedingungen benötigen eine andere pädagogische Ausrichtung und Reflexion. Dies bedeutet nicht, dass früher schlecht gearbeitet wurde. Nur passen die didaktischen Ansätze von damals nicht mehr zu dem, was uns heutzutage und die Kinder in 90 Jahren erwartet: Probleme, die wir jetzt noch nicht kennen. Kreativität für ungewöhnliche Lösungen, Phantasie und Selbstvertrauen in die eigenen Stärken sollten wir Kindern daher dringend in den frühen Jahren mitgeben. In unserer Einleitung zu den Pädagogischen Fachstandards sind wir dieser Frage auch nachgegangen und haben dort wichtige Schlüsselkompetenzen, die wir Kindern mitgeben wollen, aufgezählt.

Was es nicht leicht machte, Prof. Mienerts Argumentation bzgl. Individualismus und Kollektivismus zu folgen, war die fehlende Definition der Begriffe. Individualismus, betonte er glücklicherweise später, sei kein Egoismus, weil er immer mit Verantwortung für das eigene Tun einhergehen. Verantwortung für die eigenen Bedürfnisse, die die Bedürfnisse andere nicht verletzen dürfen, schließt das mit ein. Gemeinschaft von verantwortungsbewussten Individuen ist hingegen auch etwas anderes als Kollektivismus, in dem der besondere einzelne nicht existieren durfte, sondern er der allgemeine Normvorstellung entsprechen musste. Die Vielfalt und Verschiedenheit der einzelnen in die Gemeinschaft zu integrieren, ist eine der größten Aufgaben unserer Zeit. Thematisiert haben wir dies z.B. vor einigen Jahren in unserem Fachtag ?Vielfalt als Chance?, wo uns Prof. Barbara Wolf einlud, die Grenzen unserer Normalitätsvorstellungen zu prüfen und zu erweitern.

Zur Problematik der individuellen Bedürfnisse und organisatorischen Gegebenheiten nimmt der Sächsische Bildungsplan Stellung: ?Mit Hilfe von Abwägungen, Aushandlungen und Kompromissen gilt es eine Balance zwischen individuellen, gruppenbezogenen und institutionellen Interessen zu finden, in der das Wohlbefinden der einzelnen Kinder als Leitmotiv dient? (SBP, S.46). Wir als Erwachsene haben die Macht, solche Aushandlungsprozesse mit den Kindern und auch im Team zu führen. Das bedeutet, genau zu prüfen, wo Machtkämpfe mit Kindern entstehen oder wo wir unsere Macht, gestützt auf die Beobachtungen und Gespräche mit Kindern, für kindorientierte Abläufe einsetzen können.

In den Austauschrunden am Vormittag und den Reflexionsrunden am Nachmittag wurde einerseits deutlich, dass sich in unseren Einrichtungen vieles in den letzten Jahren verändert hat ? Räume, gruppenübergreifendes Arbeiten, Schlaf-, Ruhe- und Wachgruppen, Kinderkonferenzen und vieles mehr. Andererseits fand auch jedes Team etwas, an dem es nach dem Fachtag weiterarbeiten und weiterdiskutieren wird:

  • 5-Minuten-Gespräche pro Kind und Tag über das, was das Kind interessiert, was es gerade für sich entdeckt hat, woran es gern arbeiten würde ?
  • mehr und öfter Zeit im Garten, der als Bildungsraum gleichzeitig zu den Räumen im Haus geöffnet ist
  • Essen und Schlafsituationen weiter überdenken
  • und Feste Kind- und ggf. weniger Erwachsenenorientiert gestalten
  • den Sächsischen Bildungsplan mal wieder lesen
  • und vieles mehr.

Nicht alle erlebten an unserem pädagogischen Tag Prof. Mienert konstruktiv und wertschätzend. Tatsächlich zeichnet ihn wohl eher eine provozierende Art aus.

Als Ihre Fachbereichsleiterin kann ich Sie nur ermutigen, diesen Aussagen selbstbewusst und selbstkritisch zu begegnen. Sich in Frage stellen zu lassen, zählt zu einer der wichtigsten Reflexionsfähigkeiten, die wir im pädagogischen Beruf benötigen. Die eigene fachliche Argumentation daran zu schärfen und das pädagogische Handeln im Team fachlich zu begründen, ist die wichtigste Voraussetzung für Qualitätsentwicklung. Und diese wiederum ist ein fortdauernder Prozess. Der Weg ist das Ziel und Sie sind alle miteinander auf einem guten Weg!